Neuer Blickwinkel: Das Recht
auf Auswanderung
Das Thema Migration beherrscht Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven sorgt bei den Besuchern und Schulklassen für neue Denkanstöße und Criticial Thinking. Wir sprachen mit der Museumsdirektorin Dr. Simone Blaschka.
Dr. Simone Blaschka I COPYRIGHT Deutsches Auswandererhaus I Foto Magdalena Gerwien
Weserwirtschaftsforum: Frau Dr. Blaschka, danke, dass Sie sich für den Weserwirtschaftsforum Zeit nehmen. Es wird viel über Migration gesprochen. Dass Menschen aus Deutschland auch auswandern, ist bei den meisten nicht im Bewusstsein. Was können die Besucher im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven erwarten?
Dr. Simone Blaschka: Das Deutsche Auswandererhaus bietet ein besonderes Erlebnis für alle: Große und kleine Zeitreisende gehen beispielsweise ins 19. Jahrhundert und besteigen das Zwischendeck eines Segelschiffes, das über den Atlantik nach Amerika fuhr. Ganz persönlich wird es, wenn man die Lebensgeschichte einer ausgewanderten Person nacherzählt bekommt und einzigartige Erinnerungsobjekte dabei betrachten kann: So erzählt ein Teddybär die Geschichte einer Frau, die als kleines Mädchen am Ende des Zweiten Weltkrieges vor der sowjetischen Armee floh und als junges Mädchen aus der Bundesrepublik auswanderte, um ihren American Dream leben zu können. Wenn man als Besucher:in in New York angekommen ist, erfährt man beispielsweise in einem Deli aus den 1950er Jahren wie es war, sich dort mit einem kleinen Lebensmittelgeschäft selbstständig zu machen. Wie wichtig es war, ein besonders leckeres Kartoffelsalatrezept zu haben, denn für diese Spezialität waren die deutschen Delis berühmt. Im zweiten Teil des Museums wird die Geschichte der Einwanderung nach Deutschland vorgestellt, auch hier gibt es vieles unbekanntes zu entdecken: Beispielsweise wie
erfinderisch Eingewanderte waren, um in schwierigen Zeiten über die Runden zu kommen: Eine italienische Eismacherfamilie etwa übte einige Zeit das Frisörhandwerk aus, als das Eisgeschäft nicht gut lief. Spannend ist es auch, der Debatte über die Gleichstellung von ausländischen Arbeitskräften mit den inländischen zu folgen, die immer wieder in der Bundesrepublik geführt wird. Am Ende können alle Besucher:innen in einer Datenbank recherchieren, ob sie selbst ausgewanderte Vorfahren haben – mit oft überraschenden Ergebnissen.
Weserwirtschaftsforum: Das Thema Migration ist in Deutschland bei den meisten Menschen im negativen Kontext. Verändert sich die Meinung über Migrationsthemen nach dem Besuch des Auswandererhauses bei den Menschen? Was sind Ihre Erfahrungen?
Dr. Simone Blaschka: Die Besucher:innen des Deutschen Auswandererhauses sind meistens nicht negativ gegenüber Migration eingestellt – das, was wir wissen, ist, dass sie viel in unserem Museum dazu lernen und eine differenziertere Meinung und neue Blickwinkel erhalten. Wir wissen,
dass die meisten unserer Besucher:innen wenig Freunde oder Bekannte mit einer Einwanderungsgeschichte haben.
Und so ergeben sich für sie bei uns durch die persönlichen Geschichten, die wir erzählen, neue Blickwinkel und noch mehr Empathie. Menschen, die negativ gegenüber Migranten eingestellt sind mit einem Museumsbesuch
menschenfreundlicher werden zu lassen, ist, glaube ich, nicht möglich. Aber die warmherzige Atmosphäre, die bei uns herrscht und die einzigartige Ausstellung, die die Geschichte von beeindruckenden Menschen erzählt, gibt hoffentlich den einen oder anderen Denkanstoß – sei es nur, dass festgestellt wird, dass auch Deutsche über viele Jahrhunderte Auswandererund damit ja auch irgendwo Einwanderer waren.
Weserwirtschaftsforum: Gerade bei jungen Menschen, die nach der Schule über Auslandsaufenthalte nachdenken, ist Aufklärung ein wichtiger Faktor. Wie empfinden Schulklassen oder junge Menschen den Besuch im Auswandererhaus und wie wichtig ist das Thema Migration für Sie ganz persönlich?
Dr. Simone Blaschka: Wenn Schulklassen im Deutschen Auswandererhaus ankommen, merkt man, dass sie ein langweiliges Museum erwarten und den Besuch als eine Pflichtveranstaltung betrachten. Aber nach einiger Zeit spürt man das wachsende Interesse: Besonders die Critical Thinking Stations, unsere digitale Denkräume, sind bei Schüler:innen sehr beliebt. Hier können sie an Touchscreens Fragen dazu beantworten, inwieweit Migration etwa mit ihrem eigenen Leben zu tun hat. Beispielsweise die Frage, ob alle ein Recht auf Auswanderung haben oder, ob sie aufgrund ihres Aussehens an internationalen Grenzen öfter kontrolliert werden. Die Antworten werden gespeichert und am Ende des Rundganges werden auf einer großen Videowall die Antworten aller Besucher über Statistiken vorgestellt. Vor der Videowall befinden sich eine Sitzgruppe mit Sofa und Sesseln und dort findet man oft Schülergruppen, die über die Fragen der Criticial Thinking Stations, aber natürlich auch über ihren Alltag reden. Das freut mich, weil die Schüler:innen diesen Eindruck mitnehmen: ein Museum kann entspannt sein und hat etwas mit mir zu tun. Besonders freut es mich, wenn die Schüler:innen bei uns mitbekommen, wie viel Mut und
Entschlossenheit eine Migration erfordert. Wenn sie also für einen kurzen Moment bildlich gesprochen in die Schuhe eines anderen Menschen schlüpfen und ausprobieren, wie es sich anfühlt einen anderen Lebensweg zu gehen.
Weserwirtschaftsforum: Claudia Roth, Christian Dürr und der US-Generalkonsul Jasen Chue waren bei Ihnen zu Gast. Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel war 2021 bei Ihnen. Was hat Frau Merkel bei ihrem Besuch im Auswandererhaus gesucht und wie haben Sie die Begegnung mit ihr empfunden?
Dr. Simone Blaschka: Als die Bundeskanzlerin Angela Merkel das Deutsche Auswandererhaus im November 2021 besuchte, hat sie sich viel Zeit genommen für unsere Ausstellung. Das hat das ganze Team des Museums sehr geehrt. Besonders beeindruckt hat mich, wie viel Interesse jede Geschichte und jedes Objekt bei ihr geweckt haben. Lange standen wir beispielsweise vor einem Kinderkleid, das kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der ehemaligen sowjetischen Teilrepublik Ukraine aus Stoffresten von einer Großmutter für ihr Enkelkind genäht wurde. In die Bundesrepublik ist das Kleid gekommen, weil die Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge einreisen konnte – weggehen aus der Ukraine wollten sie nach der Katastrophe von Tschernobyl.
Weserwirtschaftsforum: Welche Vision haben Sie als Direktorin für das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven?
Dr. Simone Blaschka: Das Deutsche Auswandererhaus feiert in diesem Jahr sein 20jähriges Bestehen. Auch wenn wir schon in dieser kurzen Zeit eine bewegte Geschichte hatten, in der wir das Museum zweimal erweitert und den Europäischen Museumspreis für unsere Ausstellung gewonnen haben, möchte wir in unserem Jubiläumsjahr nach vorne schauen. Wir möchten beispielsweise weiterhin durch attraktive Sonderausstellungen alte und neue Besucher:innen ansprechen – dieses Jahr beispielsweise mit dem Thema „Verlockung Weltall. Auswandern auf Mond, Mars und Venus?”. Konzeptionell wollen wir unser Haus weiterentwickeln als einen Ort für die Gemeinschaft, einen so genannten Dritten Ort. Hier sollen Menschen darüber debattieren, wie sie das Einwanderungsland Deutschland gestalten möchten, aber auch einfach feiern können. Besucher:innen sollen selbst etwas lernen können und zugleich andere an ihrer Lebensexpertise teilhaben lassen. Dabei sollen nicht nur die positiven, sondern auch negative Erfahrungen, wie Diskriminierungen und Rassismus thematisiert werden. Wachsamkeit und
Neugierde hochhalten – das ist auch weiterhin unser Ziel.
Weserwirtschaftsforum: Frau Dr. Blaschka, haben Sie vielen Dank für den Einblick und das Gespräch.
Das Interview führte Joel Cruz