Vielfalt darf nicht nur auf
Imagebroschüren stattfinden
Die Politik und Verwaltungen sind bestrebt die Gesellschaft widerzuspiegeln. Wir wollten von Dr. Anwar Hadeed, dem Geschäftsführer von „amfn e. V. – Arbeitsgemeinschaft Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge in Niedersachsen“ wissen warum Deutsche mit Migrationshintergrund (30,4 Prozent der Gesamtbevölkerung) in Politik und Verwaltungen immer noch unterrepräsentiert sind.
Dr. Anwar Hadeed I Geschäftsführer I amfn e. V. – Arbeitsgemeinschaft Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge in Niedersachsen I Foto: amfn e.V./Anwar Hadeed
Weserwirtschaftsforum: Herr Dr. Anwar Hadeed, danke, dass Sie sich für das Weserwirtschaftsforum Zeit genommen haben. Das Thema Migration ist eine wichtige Zukunftsressource, nicht nur für Niedersachsen. Wie gelingt es dem amfn e.V., die vielfältigen Interessen seiner 63 Mitgliedsvereine landesweit zu bündeln und wirksam in migrations- und integrationspolitische Entscheidungsprozesse einzubringen?
Dr. Anwar Hadeed: Das Selbstverständnis von amfn e.V. ist es, eine starke, landesweite Stimme der migrantischen Zivilgesellschaft zu sein. Unsere Mitglieder spiegeln eine beeindruckende Vielfalt an Kulturen, Perspektiven und Engagementformen wider. Diese Vielfalt ist unsere Stärke – aber auch unsere Verantwortung. Um die unterschiedlichen Bedarfe zu bündeln, setzen wir auf einen strukturierten, dialogorientierten Austausch. Unsere Mitgliederversammlungen sowie unsere landesweiten Konferenzen und projektbezogene Fachtagungen bieten Raum für Vernetzung, themenspezifische Impulse und gemeinsame Positionsfindung. So nehmen wir Anliegen auf, definieren Prioritäten und entwickeln migrationspolitische Positionen partizipativ weiter. Politische Mitgestaltung verstehen wir nicht als einmaliges Ereignis, sondern als dauerhaften Prozess. Wir sind in verschiedenen Gremien und Netzwerken und Facharbeitskreisen auf Landesebene aktiv und pflegen den Dialog mit Ministerien, Parlamentarier*innen,
kommunalen Spitzenverbänden und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Dabei bringen wir nicht nur Positionen ein, sondern auch Expertise aus gelebter Praxis – gerade in Fragen der Teilhabe, Antidiskriminierung und interkulturellen Öffnung. Wir sehen uns als Brückenbauer zwischen Politik und migrantischer Selbstorganisation, zwischen Landesebene und Basisarbeit. Migration ist kein Sonderthema, sondern Teil einer
modernen Gesellschaft – und sollte sich auch in politischen Entscheidungen und Strukturen widerspiegeln.
Weserwirtschaftsforum: Unser Magen und Essgewohnheiten sind bereits vielfältig und interkulturell – welche konkreten Maßnahmen ergreift der amfn e.V., um
rassistischen, patriarchalen und diskriminierenden Strukturen im gesellschaftlichen Alltag in Niedersachsen entgegenzuwirken?
Dr. Anwar Hadeed: Vielfalt auf dem Teller ist heute selbstverständlich – in Köpfen und Strukturen leider noch nicht. Genau hier setzt die Arbeit von amfn e.V. an. Integration und Teilhabe verstehen wir als gesamtgesellschaftlichen Prozess. Das heißt auch: Rassismus, patriarchale
Machtverhältnisse und Diskriminierung klar zu benennen, zu hinterfragen – und ihnen
konkret entgegenzuwirken. Wir bieten Empowerment-Formate für Menschen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte, u.a. zu Selbstorganisation, politischer Teilhabe oder Schutz vor Diskriminierung. Gleichzeitig führen wir Dialog- und Sensibilisierungsformate mit
Institutionen, Verwaltungen und Fachkräften durch – von der Schule über die Kommune bis zur Landespolitik. Mit unseren Antirassismusprojekten (z.B. in Schule oder Gesundheitswesen) stärken wir die Antidiskriminierungsarbeit auf mehreren Ebenen.
Dazu zählen Fortbildungen, Aufklärungsarbeit zu strukturellem Rassismus sowie konkrete Handlungsempfehlungen für
Verwaltungen und Träger. Ein Anliegen ist uns auch die Sichtbarmachung und Stärkung migrantischer Frauenperspektiven. Wir unterstützen und fördern gezielt die Gründung und Entwicklung von migrantischen Frauenvereinen. Außerdem fördern wir intersektionale Perspektiven und bieten geschützte Räume, in denen patriarchale Strukturen thematisiert und überwunden
werden können. Denn: Vielfalt zu feiern reicht nicht – man muss sie auch verteidigen. Und genau das tun wir – gemeinsam mit unseren Mitgliedsvereinen in ganz Niedersachsen.
Weserwirtschaftsforum: Migration, Integration und Bildung gehören zusammen. Welche konkreten Erfahrungen und Erfolge kann das Migranten-Eltern-Netzwerk Niedersachsen vorweisen, wenn es darum geht, Eltern mit Migrationsgeschichte in das Bildungssystem einzubinden und Bildungsungleichheiten abzubauen?
Dr. Anwar Hadeed: Chancengerechtigkeit für Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte im Bildungssystem ist Voraussetzung für mehr gesellschaftliche Teilhabe. Der Bildungserfolg hängt auch maßgeblich davon ab, wie sehr sich Eltern für die Bildung ihrer Kinder einsetzen können. Damit Eltern ihren Erziehungsauftrag selbstbewusst und sicher wahrnehmen, stärken,
informieren und vernetzen wir sie niedersachsenweit und kommunizieren ihre Interessen auf lokaler und Landesebene an die Politik. Eltern werden ermutigt, ihre Rechte wahrzunehmen,
Bildungswege aktiv mitzugestalten, gegen Rassismus vorzugehen und sich in Gremien
einzubringen. Um mehr zugewanderte Eltern in die Elternvertretung zu bringen, haben wir 2023/24 – 47 Veranstaltungen mit über 900 Teilnehmenden zum Thema Elternvertretung durchgeführt. Ermutigt durch drei Schulungen haben allein in Hannover mindestens neun Eltern im Anschluss erfolgreich kandidiert. Ein zentraler Erfolgsfaktor ist die Arbeit unserer 12 Regionalnetzwerke, mit denen wir bereits einen großen Teil Niedersachsens abdecken. Hier erhalten Eltern neben Informationen in ihren Sprachen auch die nötige Rückenstärkung, um die Bedürfnisse und Anliegen ihrer Kinder zu vertreten und so zu Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit beizutragen. Die Erfolge sind sichtbar: Die Elternbeteiligung in Kita und Schule wächst stetig. Und es ist zu erleben: Die Situation zugewanderter Kinder verbessert sich deutlich, wenn ihre Eltern in Bildungsprozesse und -institutionen einbezogen werden.
Weserwirtschaftsforum: Öffentliche Institutionen und Parlamente sind der Spiegel der Gesellschaft. Spiegeln sich aus Ihrer Sicht unsere öffentlichen Verwaltungen, Behörden und Ämter unserer Gesellschaft wider? Haben wir darin noch Handlungsbedarf?
Dr. Anwar Hadeed: Öffentliche Verwaltungen und Parlamente sollten der Spiegel unserer Gesellschaft sein – divers, vielstimmig, repräsentativ. Doch das ist noch zu selten der Fall.
Menschen mit Migrationsgeschichte, People of Color oder Angehörige marginalisierter Gruppen sind in
zahlreichen Behörden, politischen Gremien und in Parlamenten deutlich unterrepräsentiert – sowohl im hauptamtlichen Personal aber vor allem, in der politischen Repräsentanz.
Diese Repräsentationslücke ist kein Zufall, sondern Folge struktureller Barrieren: mangelnde interkulturelle Öffnung, fehlende Zugänge, diskriminierende Verfahren oder die Unsichtbarkeit migrantischer Lebensrealitäten. Das schwächt das Vertrauen in staatliche Institutionen – und lässt wertvolle Kompetenzen und Perspektiven ungenutzt.
Ja, hier herrscht deutlicher Handlungsbedarf – auf allen Ebenen: von der Personalgewinnung über politische Nachwuchsförderung bis zur Verankerung von Diversität als Querschnittsaufgabe. Es braucht verbindliche Maßnahmen, klare Zielvorgaben und eine Kultur der Öffnung. Vielfalt darf nicht nur auf Imagebroschüren stattfinden – sie muss sich in Verwaltung, Parteien und Parlamenten widerspiegeln. Als amfn e.V. setzen wir uns dafür ein, dass diese Institutionen nicht nur für, sondern mit allen Menschen arbeiten – und zwar unabhängig von Herkunft, Religion, Hautfarbe oder Sprachbiografie. Nur eine repräsentative Demokratie kann gerecht, demokratisch und zukunftsfähig sein.
Weserwirtschaftsforum: Was ist Ihr Traum oder Wunschvorstellung einer liberalen, offenen und toleranten Gesellschaft? Und was wünschen Sie sich für die nachfolgenden Generationen in Deutschland?
Dr. Anwar Hadeed: Meine Wunschvorstellung ist eine Gesellschaft, in der Herkunft keine Hürde, sondern eine Ressource ist. Eine Gesellschaft, in der Vielfalt nicht nur akzeptiert, sondern geschätzt und gelebt wird – in der also Menschen unterschiedlichster Hintergründe gemeinsam gestalten, ohne sich ständig rechtfertigen oder anpassen zu müssen. Ich träume von einem Deutschland, in dem Kinder – egal ob sie Fatima oder Finn heißen – mit denselben Chancen aufwachsen, gefördert werden und sich zugehörig fühlen. Von einem Land, das die Stimmen seiner migrantischen Communities nicht nur hört, sondern aktiv einbindet. In dem Verwaltungen, Medien, Unternehmen und Parlamente die Realität widerspiegeln – mehrsprachig, mehrstimmig, solidarisch. Für die nachfolgenden Generationen wünsche ich mir ein Deutschland, in dem sie ohne Angst verschieden sein dürfen. In dem sie stolz sein können – auf ihre Geschichten, Sprachen, Religionen und Identitäten – ohne dafür diskriminiert zu werden. Und ich wünsche mir, dass sie nicht mehr nur über Teilhabe sprechen müssen, sondern selbstverständlich Teil des Ganzen sind. Eine offene Gesellschaft ist kein Zustand, sie ist eine gemeinsame Aufgabe. Jeden Tag aufs Neue. Und ich glaube fest daran: Sie ist möglich – wenn wir bereit sind, einander zuzuhören, Verantwortung zu teilen und uns nicht mit symbolischer Vielfalt zufriedenzugeben.
Weserwirtschaftsforum: Herr Dr. Anwar Hadeed, ich bedanke mich für das Gespräch.
Das Gespräche führte Joel Cruz