Höherer Frauenanteil ist Gerechtigkeit und Standortvorteil
Wer sonst könnte eine gute Gesprächspartnerin sein als eine Senatorin für Arbeit, Soziales, Jugend und Integration? Wenn sie den demografischen Wandel aufhalten könnte, dann hätte sie sicherlich den Nobelpreis verdient. Wir sprachen mit der Bremer Senatorin Dr. Claudia Schilling über die Herausforderungen der Zeit in der Weserregion – und dazu gehört auch die Stadt Bremen.

Dr. Claudia Schilling I Senatorin für Arbeit, Soziales, Jugend und Integration sowie Senatorin für Justiz und Verfassung in der Freien Hansestadt Bremen I Foto: SASJI/Hornung
Weserwirtschaftsforum: Guten Tag Frau Senatorin Dr. Claudia Schilling, zunächst einmal vielen Dank, dass Sie sich für unsere Fragen und für das Weserwirtschaftsforum Zeit nehmen. Bei den Wahlen werden die Themen Migration und Integration instrumentalisiert. Sachliche Argumente rutschen in den Hintergrund. Wie bedeutend ist für Bremen das Thema Migration?
Dr. Claudia Schilling: Bremen ohne Migration ist schlicht unvorstellbar. Unser Land ist das bunteste Bundesland Deutschlands: Rund 40 Prozent der Menschen im Land Bremen haben eine Migrationsbiografie, unter Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahren sind es sogar knapp 70 Prozent. Ob es Kolleg:innen, Nachbar:innen, oder Freund:innen sind: Menschen mit Migrationsgeschichte bereichern unser Zusammenleben und machen Bremen und Bremerhaven lebenswert. Gleichzeitig ist Migration auch eine wirtschaftliche Realität: Ohne Menschen mit internationaler Geschichte würden Pflege, Gesundheit, Dienstleistung, Erziehung oder Unterricht in Bremen und Bremerhaven schlicht stillstehen. Rund ein Viertel aller Beschäftigten hat heute eine Migrationsbiografie. Deshalb setzen wir Integration und Teilhabe konsequent gemeinsam mit den Menschen um. Wir fördern Sprachbildung von Anfang an, sichern qualitativ gute
Migrationsberatung, stärken migrantische Selbstorganisationen und erleichtern Zugänge zum Arbeitsmarkt. Themen wie Antidiskriminierung und Rassismus gehen wir proaktiv und partizipativ an. Das tun wir in dem Wissen, dass der Weg zu einer
diskriminierungsarmen Gesellschaft lang ist, aber nur im gemeinsamen Engagement
gelingt.
Weserwirtschaftsforum: Demografischer Wandel bzw. die zunehmende Alterung der Gesellschaft macht den Arbeitgebern zu schaffen. Bald leben auf der Erde 9,7 Milliarden Menschen. Was muss man aus Ihrer Sicht tun, um den demografischen Wandel aufzuhalten?
Dr. Claudia Schilling: Wenn ich den demografischen Wandel tatsächlich aufhalten könnte, dann würde ich vermutlich den Nobelpreis bekommen. Aber im Ernst: Wir können den Wandel nicht aufhalten, aber wir können ihn gestalten. Dafür brauchen wir drei Dinge: Erstens, dass junge Menschen in Bremen gute Chancen haben – in der Schule, in Ausbildung und im Beruf. 
Zweitens, dass wir Zuwanderung aktiv gestalten und Integration als Chance für unsere Gesellschaft begreifen. Und drittens, dass wir auch den Älteren ermöglichen, so lange wie möglich mit Freude amArbeitsleben teilzunehmen. Statt also zu fragen, wie wir den demografischen Wandel aufhalten, sollten wir unsfragen, wie wir die Potenziale der 9,7 Milliarden Menschen weltweit bestmöglich nutzen, zum Vorteil für alle.
Weserwirtschaftsforum: Die Länder stehen vor finanziellen Herausforderungen. Überall wird gespart und gekürzt – auch im sozialen Bereich. Daraus resultieren neue Probleme. Wie fördert man Ehrenamtlichkeit, Projekte gegen Extremismus und den gesellschaftlichen Zusammenhalt trotz Kürzungen bei den Sozialausgaben?
Dr. Claudia Schilling: Ja, die finanziellen Herausforderungen sind real, aber gesellschaftlicher Zusammenhalt darf nicht dem Rotstift zum Opfer fallen. Wichtig ist mir dabei die Unterscheidung: Wenn von „Sozialausgaben“ die Rede ist, geht es oft um gesetzliche Leistungen für Einzelne und nicht automatisch um die Förderung sozialer Träger oder Projekte vor Ort. Gerade dort aber entsteht Zusammenhalt
durch Ehrenamt, Begegnung und Prävention. Deshalb setzen wir in Bremen unsere Engagementstrategie Schritt für Schritt um. Wir stärken das Ehrenamt, indem wir Hürden abbauen, Strukturen fördern und Menschen unterstützen, die sich für andere einsetzen. Gleichzeitig setzen wir auf Prävention und sozialräumliche Zusammenarbeit: Angebote vor Ort sollen besser
ineinandergreifen, damit Hilfe früher ankommt und wir teurere Eingriffe vermeiden können – wie zum Beispiel beim Projekt der Präventiven Erziehungsberatung.
Kurz gesagt: Wir kämpfen dafür, dass soziale Mittel nicht gekürzt werden. Und das Ziel unserer Arbeit ist, dass jeder eingesetzte Euro möglichst wirksam ist. Als Justizsenatorin liegt mir ein Projekt besonders am Herzen, das ich mit der Bildungssenatorin ins Leben gerufen habe: „Bremer Recht macht Schule“. Hier
kommen ehrenamtlich Richter:innen, Staatsanwält:innen und Rechtsanwält:innen mit Schulklassen ins Gespräch und vermitteln so, wie wichtig unser freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat ist. Das Projekt wird gut angenommen und das freut
mich sehr.
Weserwirtschaftsforum: Kommen wir zum Thema Frauen in Führungspositionen. Trotz gesetzlicher Vorgaben liegt der Frauenanteil in Führungspositionen in Deutschland bei 28,9 Prozent. Lettland ist mit einem Frauenanteil von 45,0 % inden Führungsetagen EU-Spitzenreiter. Relativ hohe Quoten verzeichneten auch Polen mit 42,9 % und Schweden mit 41,7 % im Jahre 2024. Kann man da vonKulturwandel und von einer frauenfreundlichen Gesellschaft sprechen?
Dr. Claudia Schilling: Zahlen wie die aus Lettland, Polen oder Schweden zeigen: Es geht. Und sie machen deutlich, dass ein höherer Frauenanteil in
Führungspositionen nicht nur ein Zeichen von Gerechtigkeit, sondern auch ein Standortvorteil ist. Von einem umfassenden Kulturwandel können wir in Deutschland allerdings noch nicht sprechen, wenn weniger als ein Drittel der Führungspositionen von Frauen besetzt sind. Eine wirklich frauenfreundliche Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass Frauen selbstverständlich in allen Bereichen vertreten sind, ohne dass sie dafür doppelt so viel leisten müssen. Dafür brauchen wir weiterhin verbindliche Rahmenbedingungen, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, den Abbau von Rollenklischees und Vorbilder, die Mut machen. Der Kulturwandel hat begonnen, aber er ist noch lange nicht abgeschlossen.
Weserwirtschaftsforum: Die Zukunft gelingt nur mit der Jugend. Junge Menschen
brauchen andere Formen der Orientierung als nur KI und Social Media. Was sind Ihre Tipps für junge Menschen, die ihre Zukunft noch vor sich haben?
Dr. Claudia Schilling: Mein wichtigster Tipp: Bleibt neugierig und probiert Dinge aus, auch jenseits von KI und Social Media. Nichts ersetzt echte Begegnungen, Erfahrungen im Team oder das Engagement in einem Verein, einer Initiative oder einem Ehrenamt. Wer Verantwortung übernimmt, lernt mehr fürs Leben als jedes Tutorial im Netz vermitteln kann. Zweitens: Habt Mut, eigene Wege zu gehen. Nicht jede Biografie verläuft gerade – manchmal sind Umwege die spannendsten Abschnitte. Und drittens: Vertraut darauf, dass ihr etwas bewirken könnt. Ob in der Schule, im Beruf oder in der Gesellschaft: Eure Ideen und euer Engagement werden gebraucht. Die Zukunft gelingt nur mit euch, also nehmt euren Platz selbstbewusst ein.
Weserwirtschaftsforum: Frau Senatorin Dr. Claudia Schilling, haben Sie vielen Dank für das Interview und dass Sie sich für uns Zeit genommen haben.
Das Gespräch führte Joel Cruz
