Die ländliche Region –
unattraktiv für Jugendliche?
Junge Menschen wandern aus ländlichen Regionen ab, weil sie dort oft keine attraktiven Perspektiven für Bildung, Erwerbsarbeit und Freizeit sehen. Wir sprachen mit der Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, Frau Prof. Dr. Katharina Spieß über den demografischen Wandel, Binnenmigration und Willkommenskultur.
Prof. Dr. Katharina Spieß I Direktorin I BiB – Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung I Foto: BiB
Weserwirtschaftsforum: Frau Prof. Dr. Katharina Spieß, danke, dass Sie sich für das Weserwirtschaftsforum Zeit nehmen. Von 1816 bis 2022 hat sich die Bevölkerung in Deutschland verdreifacht. Warum sprechen wir über demografischen Wandel?
Katharina Spieß: Wie sprechen heute vermehrt über den demografischen Wandel, weil sich die Bevölkerungsstruktur in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert hat. Entscheidend
sind dabei nicht nur die absoluten Zahlen, sondern vor allem die Aspekte, die zur Veränderung der Struktur führen, wie abnehmende Geburtenraten, Zuwanderung und eine steigend Lebenserwartung. Seit den 1970er-Jahren liegt die Geburtenrate dauerhaft unter dem sogenannten „Bestandserhaltungsniveau“ von 2,1 Kindern pro Frau. Dabei ist für uns als Forschende aber besonders relevant, dass sich Menschen in jüngeren Jahren mehr Kinder wünschen, als sie später haben. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung, was zu einem wachsenden Anteil älterer Menschen führt. Der demografische Wandel beschreibt unter anderem die Verschiebung der Altersstruktur: Wir werden weniger junge Menschen
und mehr ältere Menschen. Mit dem in Deutschland vorherrschenden Umlagesystem, bei dem die gegenwärtigen Erwerbstätigen für diejenigen aufkommen, die im Ruhestand sind, wirf das größere Fragen auf. Der demografische Wandel stellt das Gesundheits-, Renten-, und Pflegesysteme vor große Herausforderungen. Migration kann diese Effekte kurzfristig abmildern bzw. die Alterung verlangsamen, ändert jedoch nicht grundlegend den Trend. Der
demografische Wandel ist somit kein Widerspruch zur gestiegenen Bevölkerungszahl, sondern Ausdruck tiefgreifender gesellschaftlicher und bevölkerungsstruktureller
Veränderungen.
Weserwirtschaftsforum: Neben Image- und Kommunikationsproblemen haben Betriebe in den ländlichen Regionen mit alternder Bevölkerung und Abwanderung
junger Menschen zu kämpfen. Warum wandern junge Menschen aus den ländlichen Regionen ab?
Katharina Spieß: Junge Menschen wandern aus ländlichen Regionen ab, weil sie dort oft keine attraktiven Perspektiven für Bildung, Erwerbsarbeit und Freizeit sehen. Viele Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten sowie gut bezahlte Jobs sind in urbanen Zentren konzentriert. Zudem bieten Städte häufig eine vielfältigere Freizeit- und Kulturszene, bessere Mobilitätsangeboteund mehr soziale Anschlussmöglichkeiten.
Der demografische Wandel verstärkt diesen Trend: Mit zunehmender Alterung der Bevölkerung sinkt die Nachfrage nach bestimmten Dienstleistungen vor Ort, was wiederum zur Schließung von Kitas, Schulen, Geschäften oder Arztpraxen führen kann. Unsere Forschungen zeigen, dass vor allem junge Frauen viel
mobiler sind als gleichaltrige Männer und eher zu einem Umzug bereit sind. Wenn junge Frauen wegziehen und nicht mehr zurückkehren, dann verliert die Region die nächste Müttergeneration und deren Kinder. Dies führt im ungünstigsten Fall zu einer Abwärtsspirale, die ländliche Regionen für junge Menschen noch unattraktiver macht.
Weserwirtschaftsforum: Offenbar sind Bayern und Hamburg Wanderungsgewinner der Binnenmigration. Woran liegt das?
Katharina Spieß: Nun, Bayern und Hamburg bieten vor allem jüngeren Menschen attraktive Lebens- und Arbeitsbedingungen. Bayern punktet mit einer starken Wirtschaft und hoher Lebensqualität, vor allem in den Ballungsräumen. Hamburg überzeugt als lebendige Metropole mit hoher
Lebensqualität, einem breiten kulturellen Angebot und attraktiven Jobs. Allerdings sind es über alle Altersgruppen gesehen andere Bundesländer, die bei der Binnenmigration die Spitzenplätze einnehmen – und zwar solche, die man vielleicht auf dem ersten Blick gar nicht auf dem Schirm hat: Im Jahr 2023 sind nach Brandenburg knapp 14.000 Menschen mehr zu- als weggezogen, in Schleswig-Holstein waren es über 9.000. Hintergrund ist die Suburbanisierung, in deren Folge Menschen aus den Großstädten, in diesen Fällen Berlin bzw. Hamburg, in das nahegelegene Umland ziehen. Bayern folgt erst auf Rang drei mit einem Plus von 6.000, während Hamburg im Saldo 2.000 Umzügler verloren hat. Am Beispiel dieser Zahlen kann man übrigens gut verdeutlichen, wie dynamisch sich Binnenmigration im Laufe der Jahre verändert: Brandenburg war lange Zeit eines der Länder mit den größten Verlusten bei der Binnenwanderung, heute steht es an der Spitze der „Gewinner“, wenn es um die Anzahl der Zuziehenden geht.
Weserwirtschaftsforum: Die Menschen haben das Gefühl, dass ausschließlich in das deutsche Sozialsystem eingewandert wird und weniger im Interesse der
Wirtschaft. Hochqualifizierte machen nach wie vor einen Bogen um Deutschland. Ist das so und was müssen wir tun, um für qualifizierte Talente aus aller Welt attraktiver zu werden?
Katharina Spieß: Na ja, so ist es nun auch nicht, es gibt auch Hochqualifizierte, die nach Deutschland einwandern. Wenn wir aber im Rahmen der Fachkräftesicherung noch mehr qualifizierte Einwanderung anstreben, dann sollten wir unter anderem Berufsabschlüsse aus dem Ausland schneller anerkennen und eine gute Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur für die Familien der Fachkräfte bereitstellen. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz und seiner Aktualisierung 2023 wurden dazu erste wichtige Schritte unternommen. Daneben spielt auch die Willkommenskultur eine Rolle, d.h. wie willkommen fühlen sich die Fachkräfte in Deutschland? Andere Länder sind häufig auch wegen deren Sprachen attraktiver, insbesondere wenn man dort auf dem Arbeitsmarkt mit Englisch oder Französisch gut klar kommt. Auch unsere eigene Forschung zu international mobilen Deutschen zeigt: Deutschland ist heute mit anderen Staaten im Wettbewerb um Fachkräfte. Wenn das gesellschaftliche Klima und die Bedingungen des Arbeitsmarktzugang zu kompliziert sind, gehen die Fachkräfte woanders hin.
Weserwirtschaftsforum: Der Begriff “Migrationshintergrund” führt für viele Menschen zu Verwirrung. Wie lange ist ein Mensch in Deutschland mit
Migrationshintergrund und ab wann nicht mehr?
Katharina Spieß: Der Begriff „Migrationshintergrund“ ist in Deutschland eine statistische Kategorie, die nicht unbedingt mit persönlicher Identität oder gesellschaftlicher Teilhabe übereinstimmt. Laut Definition des Statistischen Bundesamts hat eine Person einen Migrationshintergrund, wenn
sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. Das bedeutet: Auch wer in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, perfekt Deutsch spricht und nie im Ausland gelebt hat, kann formal als Mensch mit Migrationshintergrund gelten – etwa, weil ein Elternteil zugewandert ist.
Diese Definition führt oft zu Verwirrung, weil sie Menschen über Generationen hinweg in eine „Herkunftskategorie“ einordnet – unabhängig von ihrer Lebensrealität. Gesellschaftlich
wirft das die Frage auf, wann die Zugehörigkeit zu Deutschland „vollständig“ anerkannt wird. Es gibt keinen festen Zeitpunkt, an dem der Migrationshintergrund „verschwindet“ – weder nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer noch nach dem Erwerb der Staatsbürgerschaft. Inzwischen wird auch in der amtlichen Statistik wegen all diesen Problemen eher von Menschen mit Einwanderungsgeschichte gesprochen.
Weserwirtschaftsforum: Frau Prof. Dr. Spieß, haben Sie vielen Dank für das angenehme Gespräch.
Das Gespräche führte Joel Cruz