Auf dem Weg zu einer Einwanderungsgesellschaft
Wir wollten wissen, warum die Vizepräsidentin der Bremer Bürgschaft, Frau Sahhanim Görgü-Philipp, sich manchmal als ein kleines Mädchen aus Karakoçan in der Dorfschule sieht und was ihre Zukunftsvision für unsere Gesellschaft ist?
Sahhanim Görgü-Philipp (Grüne) I Vizepräsidentin der Bremer Bürgerschaft I Foto: Sahhanim Görgü-Philipp
Weserwirtschaftsforum: Guten Tag Frau Görgü-Philipp, danke, dass Sie sich für das Weserwirtschaftsforum Zeit genommen haben. Seit dem 29. Juni 2023 sind Sie Vizepräsidentin der Bremischen Bürgerschaft. Wie fühlt sich das an? Und was waren bisher die schönsten Momente als Vizepräsidentin in der Bremischen Bürgerschaft?
Sahhanim Görgü-Philipp: Es gibt Tage, da ist es für mich das Natürlichste von der Welt als Vizepräsidentin eine Veranstaltung zu eröffnen oder auswärtige Gäste zu begrüßen. Ich mag Menschen und bin gern im Dialog mit ihnen. Und dann gibt es Tage, da betrete ich die Bürgerschaft und sehe das kleine Mädchen aus Karakoçan in der Dorfschule sitzen. Ich habe mir angewöhnt, in diesen Momenten kurz innezuhalten, meine Wurzeln zu spüren und bewusst die Menschen zu sehen, die mich auf meinem Weg unterstützt haben. Mir wird dann klar, wie bunt und vielfältig – und unvorhersehbar unser Leben ist. Meinen Weg gehe ich dann wieder ein bisschen bewusster, mit mehr Achtung für die Vielfalt um mich herum. Schönste Momente – das ist nicht einfach: Natürlich gibt es viele tolle, große Anlässe, bei denen ich gern dabei bin. Aber ich mag es, wenn Fachleute zu einem Thema in der Bürgerschaft zusammenkommen und man wirklich die Energie spürt, mit der um Lösungen gerungen wird. Und ich mag die kleinen Begegnungen. Bei Taschenlampenführungen eine Fremde einzuhaken, mit ihr die Bürgerschaft zu entdecken und dabei zu erfahren, welche Themen sie persönlich bewegen. Lustig ist es mit Kids – sie sind so unerschrocken und neugierig, entzaubern uns auch immer
ein bisschen. Das tut uns gut, hinterfragt zu werden.
Weserwirtschaftsforum: Ist Deutschland aus Ihrer Sicht ein klassisches Einwanderungsland oder werden Menschen mit Migrationshintergrund hierzulande immer noch als Menschen “zweiter Klasse” gesehen und behandelt?
Sahhanim Görgü-Philipp: Das ist eine wichtige und komplexe Frage. Aus meiner Sicht ist Deutschland definitiv
ein Einwanderungsland, in dem Menschen mit Migrationshintergrund einen festen und wachsenden Bestandteil der Gesellschaft darstellen. Ich selbst stehe dafür. Viele Menschen um uns herum haben ganz unterschiedliche Wurzeln, tragen viele Identitäten in ihrem Inneren und prägen damit ganz selbstverständlich unser gesellschaftliches, kulturelles und wirtschaftliches Miteinander. Doch ich bin nicht naiv, die Gleichbehandlung und echte Akzeptanz füreinander ist ausbaufähig. Dumpfe gegenseitige Vorurteile, echte Diskriminierung, auch Rassismus kann ich wahrnehmen und schwer aushalten. Ungleiche Chancen im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt oder im Alltag etwa bei der Wohnungssuche prägen leider den Alltag vieler unserer Mitmenschen. Und dann weiß ich wieder sehr genau, woran wir gemeinsam arbeiten müssen. Mein Traum von einer wirklich inklusiven Gesellschaft mit hoher Chancengerechtigkeit für alle Menschen darf gern wahr werden. Ich glaube, dass wir die Vielfalt des Einzelnen noch viel zu wenig als Chance begreifen.
Viele Kinder wachsen mehrsprachig auf, sie sind wahre kulturelle Botschafter und trainiert, zwischen den Welten zu vermitteln und Widersprüche
auszuhalten. Davon können wir als Gemeinschaft noch viel stärker profitieren, wenn wir uns das bewusst machen.
Weserwirtschaftsforum: Fachkräftemangel, demografischer Wandel, Abwanderung junger Talente und Hochqualifizierte aus dem Ausland machen einen großen Bogen um Deutschland. Was müssen wir tun, damit Deutschland für Einheimische selbst und für junge Talente aus aller Welt attraktiver wird?
Sahhanim Görgü-Philipp: Eine wichtige Frage und ich sehe durchaus ein paar Stellhebel, um Veränderungen zu bewirken: Wir sollten in Bildung und Ausbildung investieren, um junge Talente
bestmöglich zu fördern und ihnen Perspektiven vor Ort zu bieten. Eine gute Infrastruktur, bezahlbarer Wohnraum und nachhaltige Arbeitsplätze sind dabei entscheidend. Es ist außerdem wichtig, die Zuwanderung von Hochqualifizierten aktiv zu gestalten und zu erleichtern. Wir müssen bürokratische Hürden abbauen, Integrationsangebote stärken und eine Willkommenskultur fördern, die Vielfalt als Chance sieht. Wir sollten die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern, um
insbesondere jungen Menschen und Familien eine gute Lebensqualität zu bieten. Das schafft nicht nur Attraktivität, sondern auch eine nachhaltige demografische Entwicklung. Und, auch auf die Gefahr hin, mich etwas unbeliebt zu machen, will ich einen anderen Gedanken aussprechen. Ich nehme in Deutschland manchmal so eine leichte Überheblichkeit gegenüber dem Fremden wahr, gar nicht böswillig, aber geprägt von dem alten Selbstverständnis geordneter Strukturen und Prozesse. Dabei gerät manchmal aus dem Blick, dass viele Länder um uns herum den Aufbruch in die Moderne besser vollzogen haben – Digitalisierung ist so ein
Stichwort. Hier müssen wir uns ein bisschen ehrlichen machen und endlich aufholen. Deutschland hat das Potential, ein Ort zu sein, an dem sich Einheimische und Talente aus aller Welt gleichermaßen wohlfühlen und eine Zukunft gestalten können.
Weserwirtschaftsforum: Es wird zunehmend über die Verrohung der Gesellschaft fast auf allen Ebenen gesprochen. Hat die AfD was damit zu tun oder die Politik der Altparteien in den letzten 20 bis 30 Jahren?
Sahhanim Görgü-Philipp: Hm, das ist eine schwere Frage. Aber um ehrlich zu sein, scheint mir die genannte „Verrohung der Gesellschaft“ ein komplexes Phänomen mit vielen Ursachen zu sein. Mir fällt es schwer, einzelne Akteure oder Parteien dafür verantwortlich zu machen, auch wenn ich ihren Anteil daran natürlich sehe. Aber gesellschaftliche Entwicklungen sind immer vielschichtig – die Krisen der letzten Jahre haben bei den Menschen ihre Spuren hinterlassen, für viele sind die sozialen Herausforderungen gewachsen und haben die materiellen Sorgen zugenommen. Gleichzeitig hat sich unsere Kommunikations- und Streitkultur ins Digitale verschoben,
die schnelle Schlagzeile ist wichtiger als die tiefgreifende Analyse, das Urteil schnell gesprochen. Das Alles macht was mit uns Menschen und unserem Miteinander. Um ehrlich zu sein, hatte unsere Gesellschaft immer schon rohe Elemente, die wir überwunden haben, das vergessen wir schnell. Homosexualität in der Öffentlichkeit zu leben, sich als Transperson zu outen oder unverheiratet Mutter zu werden, hat noch vor gar nicht so langer Zeit zu maximaler Ausgrenzung geführt. Kinder zu schlagen, auch in der Schule, gehörte zum guten Ton, um sie zu wertvollen Mitgliedern unser Gesellschaft zu machen – auch dieses Verständnis haben wir zum Glück überwunden und Kinderrechte anerkannt. Was ich sagen will, ich denke, jede Generation muss sehr genau hinschauen, wo aktuell Verrohung droht und aktiv gegensteuern. Wenn ich sehe, wie viele junge Menschen ganz selbstverständlich integrativ handeln, bin ich eigentlich guter Hoffnung, dass wir nicht fortschreitend Verrohen. Wenn wir wachsam bleiben und Verrohung ansprechen und verurteilen, wo sie geschieht, lässt sich auch zukünftig ein vielfältiges Miteinander gestalten.
Weserwirtschaftsforum: Der US-amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King hat 1963 in Washington D.C. seine berühmte Rede “I have a dream” gehalten. Welche Zukunftsträume haben Sie für die deutsche Gesellschaft? Wie stellen Sie sich eine moderne und vielfältige Gesellschaft ohne Vorurteile vor?
Sahhanim Görgü-Philipp: Na, alles was man dazu in knappen Zeilen antwortet, klingt schnell abgedroschen und doch ist genau das mein Zukunftstraum für die deutsche Gesellschaft: Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe oder Religion gleichberechtigt respektiert werden. Ich wünsche mir eine Zukunft, in der Vielfalt als Stärke gesehen wird und Vorurteile aussterben. Ich träume von einer modernen Gesellschaft, in der jeder Mensch die gleichen Chancen hat, sich zu entfalten und am gesellschaftlichen
Leben teilzunehmen. Es ist wirklich wichtig, sich daran zu erinnern, dass wir alle Menschen sind und Fehler machen. Das macht uns menschlich und eröffnet die Möglichkeit, voneinander zu lernen und gemeinsam zu wachsen. Wenn wir mit diesem Grundverständnis aufeinander zugehen, können wir eine freundlichere Gesellschaft schaffen. Die Angst vor dem Fremden ist etwas, das viele Menschen manchmal spüren, weil Unbekanntes zunächst Unsicherheit mit sich bringen kann. Das kann man anerkennen ohne es zu verurteilen. Doch ich glaube, dass wir diese Angst überwinden können, wenn wir uns aktiv mit anderen Kulturen und Menschen auseinandersetzen. Offenheit, Neugier und der Wunsch, den anderen kennenzulernen, sind dabei entscheidend. Wenn wir uns auf Gespräche einlassen, Vorurteile hinterfragen und Gemeinsamkeiten entdecken, können wir Barrieren abbauen und den Menschen mit ähnlichen Gefühlen und Bedürfnissen entdecken. So lässt sich gemeinsam die Angst vor dem Fremden in Neugier und Freundschaft verwandeln – aus und in alle Richtungen.
Weserwirtschafsforum: Frau Sahhanim Görgü-Philipp, vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Joel Cruz