Macht Repräsentation
einen Unterschied?
Warum leben wir in einer Zeit multipler Krisen? Und warum ist der migrationspolitische Rückschritt der Kleinen Koalition grundfalsch? Wir brauchen mehr Fortschritt, nicht weniger, sagt die Frau Pegah Edalatian. Sie ist die politische Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen. Wir wollten es genauer wissen.
Pegah Edalatian I Politische Geschäftsführerin I Bündnis 90/Die Grünen I Foto: Nils Leon Brauer
Weserwirtschaftsforum: Frau Edalatian, danke, dass Sie sich für das Weserwirtschaftsforum Zeit genommen haben. Es ist zu lesen, dass Sie für eine Gesellschaft, die durch ihre Vielfalt und unterschiedlichen Perspektiven, Antworten auf die komplexen aktuellen Herausforderungen der Welt finden wollen. Warum ist das heute so wichtig?
Pegah Edalatian: Wir leben in einer Zeit multipler Krisen – Klimakrise, Kriege,
Demokratiegefährdung. Gleichzeitig ist unsere Gesellschaft vielfältiger denn je. Das ist eine große Chance: Denn wo Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven zusammenkommen, entstehen kreative Lösungen. Vielfalt ist ein
Innovationsmotor. Sie stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt, wenn wir sie nicht nur als Realität anerkennen, sondern auch als politische Gestaltungsaufgabe begreifen. Gerade in einer globalisierten Welt brauchen wir Antworten, die inklusiv gedacht und gerecht sind. So werden unsere demokratischen Gesellschaften auch
resilienter gegen Angriffe.
Weserwirtschaftsforum: Ihre Bundestagsfraktion hat mit rund 20 Prozent den höchsten Anteil an Abgeordneten mit Einwanderungsbiografien. 73 von 630 haben im aktuellen Deutschen Bundestag einen Migrationshintergrund. Spiegelt dies unsere Gesellschaft wider?
Pegah Edalatian: Noch nicht. Fast jede*r Vierte in Deutschland hat eine Einwanderungsgeschichte. Bei Kindern unter zehn Jahren ist die Anzahl doppelt so hoch. Die Politik spiegelt diese gesellschaftliche Vielfalt noch nicht angemessen wider. Dieses Repräsentationsdefizit schwächt unsere Demokratie. Wenn Menschen in der Politik kein Gehör finden, kann ihr Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen erodieren. Dass unsere Fraktion den höchsten Anteil an Abgeordneten mit Einwanderungsbiografien hat, ist ein wichtiges Signal: Repräsentation macht
einen Unterschied. Aber sie ist kein Selbstzweck.
Es geht darum, Strukturen zu verändern, Teilhabe zu ermöglichen und Politik so zu gestalten, dass sie die Lebensrealitäten aller Menschen in den Blick nimmt. Repräsentation muss Hand inHand gehen mit echter Mitbestimmung und dem Abbau von Diskriminierung – sei esim Einwanderungsrecht, auf dem Arbeitsmarkt oder in der Bildung.
Weserwirtschaftsforum: Demografischer Wandel, Fachkräftemangel undAbwanderung von Jugendlichen. Welche neuen Denkansätze brauchen wir, um nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem auch gesellschaftlich für internationale Talente attraktiver zu werden? Und was können wir von Kanada, Australien oderNeuseeland lernen.
Pegah Edalatian: Der Fach- und Arbeitskräftemangel ist eine der größten Herausforderungen für unser Land – vom Handwerk über Pflege bis hin zur Industrie. In der Ampelregierung sind wir mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz
große Schritte gegangen: einfachere Verfahren, ein Punktesystem, die
Chancenkarte und der Spurwechsel für Asylbewerberinnen waren echte Fortschritte. Auch die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts mit kürzeren Einbürgerungsfristen und der Möglichkeit zur doppelten Staatsbürgerschaft hat ein klares Signal gesendet: Wer hier lebt, soll sich willkommen fühlen und bleiben wollen. Denn wir stehen im globalen Wettbewerb um Talente. Kanada, Australien und Neuseeland zeigen, wie ein modernes Einwanderungsland Menschen gezielt anwerben kann, aber auch, wie wichtig gesellschaftliche Offenheit ist. Deutschland braucht jetzt dringend digitalisierte und schnellere Visaverfahren, die unbürokratische Anerkennung von Berufsabschlüssen und vor allem eine Gesellschaft, in der Zugewanderte nicht mit Vorurteilen oder Diskriminierung zu kämpfen haben. Der migrationspolitische Rückschritt der Kleinen Koalition ist deshalb grundfalsch. Wir brauchen mehr Fortschritt, nicht weniger.
Weserwirtschaftsforum: Immer mehr Jugendliche haben Probleme damit, ihr Smartphone zur Seite zu legen. Selbst die WHO warnt vor suchtähnlichen Verhaltensmustern beim Konsum von Social Media. Deshalb hat Schweden 2023 Schluss gemacht mit Digitalisierung an Schulen. Die Kinder lernen wieder aus Heft und Büchern. Ist die Gesundheit unserer Kinder hierzulande nicht so wichtig?
Pegah Edalatian: Soziale Medien, wie Tiktok und Instagram sind eine wachsende Herausforderung für junge Menschen. Im schlimmsten Fall fördern sie Selbstzweifel, Einsamkeit, Suchtverhalten und beeinträchtigen sogar den Schlaf und die Konzentrationsfähigkeit. Der richtige Umgang mit Sozialen Medien und der digitalen Welt muss deshalb erlernt werden. Wir brauchen also bessere Medienpädagogik und das natürlich auch an Schulen. Auf der anderen Seite sollten Apps, die sich an Jugendliche richten, entsprechende Voreinstellungen mit sich bringen, also maximale Privatsphäre der Nutzerinnen, moderierte Inhalte und ohne die Möglichkeit, sich im endlosen “Doomscrolling” zu verlieren. Die Bundesregierung könnte an der Stelle sofort aktiv werden, indem sie den europäischen “Digital Service Act” strikter anwendet, der Plattformbetreiber zum Schutz von Kindern und Jugendlichen verpflichtet.
Weserwirtschaftsforum: Folgende Situation: Sie stehen vor hunderten von Schülerinnen und Schüler. Welche Ratschläge und Tipps würden Sie denJugendlichen auf dem Lebensweg mitgeben wollen?
Pegah Edalatian: Traut euch, mitzumischen! Nicht nur in Schule oder Beruf, sondern auch in der Demokratie. Unsere Gesellschaft braucht junge Stimmen, die widersprechen, unbequem sind und Veränderungen fordern. Gerade in Zeiten von Krisen, Populismus und Ausgrenzung ist es wichtig, dass ihr euch einmischt – für Gerechtigkeit, für Vielfalt und für eine solidarische Zukunft. Lasst euch nicht einreden, dass Politik „nichts für euch“ ist. Sie betrifft euren Alltag. Ob beim Klimaschutz, bei Bildungschancen oder beim Kampf gegen Diskriminierung. Ihr habt das Recht, mitzugestalten. Sucht euch Räume, in denen ihr wachsen könnt, und Menschen, die euch stärken. Und wenn euch Türen verschlossen bleiben: Klopft an, stellt Forderungen oder bahnt euch eigene Wege.
Weserwirtschaftsforum: Frau Pegah Edalatian, haben Sie vielen Dank für das Interviewgespräch.
Das Gespräch führte Joel Cruz