Neues Mindest für
die Wirtschaft
In den letzten Jahren haben sich Politik und Wirtschaft entfremdet, sagt Gitta Connemann. Sie ist seit 2021 Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT). Seit Mai 2025 ist sie Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Wirtschaft und Energie. Wir sprachen mit der Staatssekretärin über Fachkräfte, Bürokratie und Wirtschaftswachstum.
Gitta Connemann I Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Wirtschaft und Energie I Foto: Tom Peschel
Weserwirtschaftsforum: Frau Staatssekretärin, danke, dass Sie sich für das Weserwirtschaftsforum Zeit nehmen. Aktuelle Umfragen zeigen, dass fast jeder zweite Mittelständler mit dem Koalitionsvertrag alles andere als glücklich ist. Warum brauchen wir in Wirtschaftsfragen ein neues Mindset?
Gitta Connemann: In den letzten Jahren haben sich Politik und Wirtschaft entfremdet. Gerade unser Mittelstand fühlt sich nicht mehr gesehen. Dabei sind es doch inbesondere die kleinen und mittleren Betriebe, die vor Ort das Land am Laufen halten vom Traditionsunternehmen bis zum Start-Up. Sie erwarten: Redet wieder mit uns und nicht über uns. Und macht Tempo. Wir müssen jetzt vom Reden ins Handeln kommen. In den letzten Jahren wurden
viele Probleme beschrieben, aber es fehlten geeignete politische Antworten. Das Ergebnis: eine anhaltende Stagnation. Deutschland braucht Wachstum, Wachstum, Wachstum. Potential und Kraft sind da – bei den Betrieben und ihren Mitarbeitern. Diese Kräfte müssen wir entfesseln, indem wir an die Grundprobleme herangehen: zu hohe Energiekosten, zu hohe Steuern, erstickende Bürokratie. Der Koalitionsvertrag bietet hiefür eine solide Grundlage: Einerseits wollen wir in moderne Infrastruktur investieren. Andererseits werden wir Bürokratie rückbauen und Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen, z.B. durch Genehmigungs- und Zustimmungsfiktionen oder ein einheitliches Verfahrensrecht für Infrastrukturvorhaben. Die Energieversorgung wollen wir verlässlich und bezahlbar gestalten, indem wir die Effizienz des Gesamtsystems schrittweise verbessern, auf Marktwirtschaft und
Flexibilität setzen und die Reservekapazitäten schnell ausbauen. Außerdem sorgen wir dafür, dass es sich lohnt, mehr zu arbeiten, bspw. indem wir das Bürgergeld abschaffen und durch eine neue Grundsicherung ersetzen, aber auch indem wir die Arbeitszeiten flexibiliseren werden. Am Ende zählen aber Taten. Deshalb wird die neue Bundesregierung bis zum 11. Juli das erste Sofortprogramm auflegen. Um Energie wieder bezahlbar zu machen werden wir an die Stromsteuer, Netzentgelte und Umlagen ran gehen. Aber auch die erste Stufe des Abschreibungsturbos zünden: Eine degressive Abschreibung auf Ausrüstungsinvestitionen von 30% für die Jahre 2025 bis 2027.
Klar ist aber auch: in den kommenden Jahren werden wir über diese Maßnahmen
hinausgehen müssen – bspw. mit Blick auf den Arbeits- und Fachkräftemangel und hohe Sozialabgaben.
Weserwirtschaftsforum: Betriebe im ländlichen Raum haben mit Triple „AAA“ zu tun. Alternde Bevölkerung, Abwanderung von Jugendlichen und alte Denkweisen. Wie kann man aus Ihrer Sicht den Unternehmen in ländlichen Gebieten bei derGewinnung von Fachkräften und jungen Talenten besser unterstützen?
Gitta Connemann: Sie legen den Finger in die Wunde. Die Sicherung von Arbeits- und Fachkräften ist eine der zentralen wirtschaftspolitischen Herausforderungen für die der Zukunft. In den nächsten 10 Jahren erreichen laut Rentenversicherung mehr als 7 Milllionen Beschäftigte das Rentenalter.
Hierauf werden wir auf Bundesebene unter andem mit unserer Aktivrente reagieren. Damit können Rentnerinnen und Rentner zukünftig 2000 Euro pro Monat steuerfrei dazu verdienen. Aber wir sehen natürlich auch, dass die Mitarbeitersituation sich je nach Region und Branche unterscheidet. Insgesamt gilt dabei, dass die Besetzung offener Stellen für Betriebe in ländlichen Regionen häufig schwieriger ist. Ein vielversprechender Ansatz ist aus meiner Sicht, wenn die regional ansässigen Unternehmen, Kammern, Verbände, Wirtschaftsförderung u.a. ihre Kräfte bündeln und gemeinsam die Herausforderungen angehen. Dazu bietet für kleine und mittlere Unternehmen wie für sog. Multiplikatoren das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWE) Unterstützung im Sinne einer „Hilfe zur Selbsthilfe“. Es bietet auf seiner Webseite www.kofa.de vielfältige Praxistipps, Checklisten usw. zur gesamten Personalarbeit zur Gewinnung und Bindung von Fachkräften.
Weserwirtschaftsforum: Trotz Bemühungen zeigen aktuelle Studien, dass internationale Hochqualifizierte nach wie vor einen großen Bogen um Deutschland machen. Welche Weichen müssen wir stellen, dass nicht nur in das Sozialsystem eingewandert wird, sondern viel mehr Hochqualifizierte einwandern, die der deutschen Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur dienen?
Gitta Connemann: Wir brauchen internationale Talente und Hochqualifizierte, um unseren Mitarbeiterbedarf zu sichern. Denn die geburtenstarken Jahrgänge scheiden sukzessive aus dem Erwerbsleben aus, während weniger junge Menschen nachrücken. Bereits das Beschäftigungswachstum der letzten Jahre wurde zu einem großen Teil von ausländischen Beschäftigten getragen. Die Gewinnung ausländischer Fachkräfte dauert bisher aber zu lange und ist zu bürokratisch. Viele Unternehmen, gerade auch aus dem Mittelstand, beklagen sich zurecht darüber. Im Koalitionsvertrag haben wir deshalb vereinbart, die Verfahren konsequent zu digitalisieren und zu beschleunigen. Wir werden dazu eine digitale Agentur für Fachkräfteeinwanderung, eine „Work-and-stay-Agentur“, einrichten. Diese soll die Prozesse, auch die zur Anerkennung ausländischer Berufs- und Studienabschlüsse, bündeln, beschleunigen und mit den zuständigen Stellen der Länder besser verzahnen. Darüber hinaus sollten wir die rechtlichen Grundlagen für die Einwanderung von Fachkräften noch einmal insbesondere mit Blick auf Vereinfachungspotenziale überprüfen.
Weserwirtschaftsforum: Die Bürokratie ist kein Freund der Wirtschaft, sondern ein Bremsklotz. Man bekommt das Gefühl, dass Bürokratie wichtiger ist als christliche Werte. Wann können die deutschen Unternehmen mit Bürokratieabbau spürbar und
signifikant rechnen.
Gitta Connemann: Bürokratieabbau alleine reicht nicht. Wir brauchen einen BürokratieRÜCKbau. Dafürwerden wir ein Sofortprogramm für den Bürokratierückbau auf den Weg bringen.
Dabei werden wir z.B. Pflichten zur Bestellung von Betriebsbeauftragten abschaffen,
den Schulungs-, Weiterbildungs- und Dokumentationsaufwand signifikant reduzieren und Statistikpflichten aussetzen. Außerdem schaffen wir das nationale Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz ab. Damit nicht genug: Mit einem ganzen Maßnahmenbündel hat sich die Regierung vorgenommen, die Bürokratiekosten für die Wirtschaft um 25 Prozent zu reduzieren. Das entspricht in etwa einer Entlastung um rund 16 Mrd. Euro. Im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie setzen wir beim Bürokratieabbau außerdem auf Praxischecks. Damit nehmen wir nicht einzelne Paragrafen, sondern ganze Verfahren und Themenbereiche in den Blick. In engem Austausch mit Betroffenen aus Wirtschaft und Verwaltung identifizieren wir bürokratische
Hindernisse und erarbeiten Lösungsansätze für deren Beseitigung. Die neue Regierung plant, in allen Ressorts mehrere Praxischecks pro Jahr durchzuführen. Auf diese Weise werden wir nicht nur unnötige Bürokratie abbauen, sondern auch neue Bürokratie verhindern. Denn wir werden auch neue Gesetze gemeinsam mit Betroffenen „checken“.
Weserwirtschaftsforum: Welche Visionen haben Sie für unser Land und was würden Sie jungen Menschen für Ratschläge und Tipps auf ihrem Lebensweg
mitgeben wollen?
Gitta Connemann: Visionen überlasse ich lieber unseren Forscherinnenn, Tüftlern, Entwicklern und Pionierinnen, die wir in Wirtschaft und Wissenschaft haben. Mein Ziel: Deutschland muss wieder Aufstiegsland werden. Deutschland muss wieder vorne mitspielen – in Europa, in der Welt. Aber Bürger und Betriebe müssen auch spüren: Leistung lohnt sich wieder. Dafür wünsche ich mir einen Standort, an dem unsere Unternehmen aus guten Gründen festhalten und der junge Talente und neue Unternehmen anzieht. Ein Land, in dem kluge Köpfe neue Technologien erfinden, die Digitalisierung den Alltag erleichtert und Genehmigungsverfahren schnell und effizient ohne überbordende Bürokratie ablaufen. Ein Land mit besseren Bildungsergebnissen und hoher Beschäftigung, in das qualifizierte Arbeitskräfte gerne zuwandern. Ein Land, in dem Klimaschutz und Wirtschaftswachstum kein Gegensatz sind. Und all das erreichen wir nicht im Streit, sondern mit konstruktiver, an der Sache orientierter Regierungsarbeit und wachsendem gesellschaftlichem Zusammenhalt. Junge Menschen sehen sich einer Welt gegenüber, die von geopolitischen Konflikten und zunehmender Unsicherheit geprägt ist und sorgen sich um ihre
Zukunft. Hohe Mieten, eine unsichere Lage auf dem Arbeitsmarkt, aber auch die Art
und Weise wie auf sozialen Medien kommuniziert wird. Trotzdem bin ich optimistisch: Wenn wir heute die strukturellen Probleme unseres Landes angehen, verbessern sich gerade für die jungen Generationen Zukunftsaussichten. Meine Empfehlung an junge Menschen: lebt Eure Träume, lasst Euch nicht unterkriegen. Oder um es mit Astrid Lindgren bzw. mit Pippi Langstrumpf zu sagen: „Seid frech und wild und wunderbar.”
Weserwirtschaftsforum: Frau Staatssekretärin, haben Sie vielen Dank für das Gespräch. Ich wünsche Ihnen viel Kraft, um die Herausforderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu meistern.
Das Gespräch führe Joel Cruz